Fuldaer Zeitung: Zwischen Time-Out-Raum und Bällebad – So läuft die Arbeit in der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Fulda

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Mädchen, die das Essen einstellen oder sich selbst verletzen. Jungen, die mit starken Angststörungen kämpfen. Die Mitarbeiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Herz-Jesu-Krankenhaus in Fulda sind tagtäglich mit schweren psychischen Erkrankungen und Schicksalen konfrontiert.

Fulda – Dienstagmorgen, 9 Uhr. Auf Station D – eine von zwei offenen Stationen der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (KJP) am Herz-Jesu-Krankenhaus in Fulda – läuft die Visite. Routinearbeit für die Ärzte, Therapeuten und Mitarbeiter des Pflege- und Erziehungsdienstes – und dennoch wichtig.

So läuft die Arbeit in der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Fulda

51 vollstationäre Plätze gibt es in der Klinik, dazu 16 weitere in der Tagesklinik. Die Kinder und Jugendlichen, die hier Hilfe suchen, bringen schweres Gepäck mit: Manche haben das Essen eingestellt, hungern sich bis an den Rand der körperlichen Erschöpfung. Andere kämpfen mit Depressionen, teils ausgelöst durch traumatische Erlebnisse. Wieder andere leiden an Autismus, Zwangsstörungen oder funktionellen Ausscheidungsstörungen.

„Die Störungsbilder sind sehr verschieden“, erklärt Tobias Daub, Leitender Psychotherapeut der KJP, während er durch den Flur der Station läuft – vorbei an Wochenplänen, gemalten Bildern der Kinder und Jugendlichen, Spiel- und Kreativbereichen, Behandlungszimmern und einem geschmückten Tannenbaum. Auch der darf hier Mitte Dezember, kurz vor Weihnachten, nicht fehlen.


Mitarbeiter Ferdinand Friedrich zeigt ein typisches Zimmer in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. © Christopher Hess

Jeder Patient – meist zwischen 6 und 18 Jahren, in seltenen Fällen auch jünger – braucht hier eine individuelle Therapie. Das macht die Arbeit für die Ärzte, Therapeuten, Pfleger und Erzieher, die in der KJP an 365 Tagen 24 Stunden lang im Drei-Schicht-Betrieb im Einsatz sind, herausfordernd. Therapie und Diagnostik gleichen einem Puzzle mit vielen kleinen Teilen.

Wichtige Fragen sind hier jeden Tag: Schlägt die Therapie an? Welche Ansätze können die Situation des Kindes verbessern? Was will es selbst? Über die Störungen der Patienten und den Behandlungsstand muss sich über die Berufsgruppen hinweg intensiv und immer wieder ausgetauscht werden.

Therapie und Diagnostik gleichen Puzzle mit vielen kleinen Teilen

Für die Kinder gibt es Doppel- oder Dreierzimmer. An den Türen hängen Namensschilder und selbst gemalte Bilder, in den Zimmern Fotos mit Freunden und der Familie. Trotz aller psychischen Erkrankungen sollen sich die Kinder geborgen fühlen. „Bei manchen Störungsbildern geht es anfangs nur im Einzelzimmer“, sagt Daub. Das betrifft Kinder mit Ausscheidungsstörungen, die eine eigene Toilette benötigen, oder Patienten mit schweren Essstörungen.

Auch Kinder, die wegen ihrer Krankheit stark umtriebig sind, werden aus Eigen- und Fremdschutz manchmal allein untergebracht. Ein Beispiel: Seit wenigen Tagen wird ausnahmsweise ein vierjähriger Junge mit Autismus betreut. „Da wäre eine Betreuung im Mehrbettzimmer für ihn und die anderen schlicht nicht möglich“, sagt Ferdinand Friedrich, einer der Mitarbeiter des Pflege- und Erziehungsdienstes auf der Station.

Therapieformen und Deeskalationsmanagement

Der Tagesablauf der Kinder in der Kinder- und Jugendpsychiatrie ist Tag für Tag durchstrukturiert: Schule, gemeinsame Mahlzeiten, Ruhezeiten, Gruppenaktivitäten, Ernährungsberatung, Ergotherapie, Bewegungstherapie, Musiktherapie, tiergestützte Therapie. Diagnostik und Psychotherapie sind in diesen Abläufen immer Bestandteil. Ein Wochenplan mit den Terminen jedes Kindes hängt im Stationsflur und ist immer sichtbar.

Für die Tagesstruktur sorgen neben den Ärzten und Therapeuten vor allem die vielen Kräfte des Pflege- und Erziehungsdienstes. „Wir sind ein junges, eingespieltes Team“, sagt Nancy Oschatz, Bereichsleitung des Pflege- und Erziehungsdienstes. 208 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zählt die KJP aktuell. Wer mit schwerkranken Kindern und Jugendlichen arbeitet, sei in unterschiedlichsten Aufgabenbereichen tätig. Manchmal komme es zu Aggressionen und Gewalt aufgrund von psychischen Erkrankungen.

Die Mitarbeiter sind für solche Extremsituationen geschult und vorbereitet. Seit Jahren setzt man in der KJP auf das sogenannte professionelle Deeskalationsmanagement (ProDeMa). Oschatz erklärt: „Es geht darum, dass unsere Mitarbeiter genau wissen, wie in solchen Extremsituationen vorzugehen ist – aufmerksam, proaktiv sein, die Wogen glätten.“

Das Einzugsgebiet der KJP ist groß: „Wir sind hier für den Landkreis Fulda, den Landkreis Hersfeld-Rotenburg und Teile des Main-Kinzig-Kreises bis Gelnhausen zuständig“, erklärt Dr. Frank Theisen, Chefarzt in der KJP. Eine Außenstelle mit Tagesklinik und Ambulanz in Bad Hersfeld ist wichtiger Bestandteil des Versorgungsnetzes. Ebenso wichtig für die Versorgung seien die niedergelassenen Fachpraxen.

Die meisten Kinder und Jugendlichen sind freiwillig hier in der Psychiatrie, die sich im hinteren Bau des Herz-Jesu-Krankenhauses befindet. Der Anteil an gerichtlichen Unterbringungen sei gering, so die Verantwortlichen. Der Bedarf für weitere Plätze wäre zweifelsohne da. „Dass der Druck von Eltern, Lehrern und dem Jugendamt zugenommen hat, spüren wir ebenfalls“, sagt der Chefarzt. Die Konsequenz sei klar: Mehr kranke Kinder und Jugendliche bei gleichbleibenden Plätzen bedeuten zum Teil längere Wartezeiten.

Kinder tragen die Last einer Welt, die sich immer schneller dreht

Die Kinder, die hier ankommen, bringen nicht nur ihre individuellen Probleme mit, sondern auch die Lasten einer Welt, die sich schneller dreht als noch vor einigen Jahren. „Wir beobachten, dass sich viele Störungen stärker zeigen als noch vor Jahren“, berichtet Daub. Die Gründe sind vielfältig: Soziale Medien, Zukunftsängste, globale Krisen, Kriege.

Hier, auf Station D, soll die Welt stiller und reizärmer werden. „Wir versuchen, einen geschützten Raum zu schaffen“, sagt der Therapeut. Es gilt, die richtige Balance zu finden: nicht zu klinisch, aber auch nicht zu sehr Ferienlager- und Jugendherbergen-Atmosphäre. In der Praxis sieht das so aus: Es gibt einerseits Spielzimmer mit Holzspielzeug, Lego und Spielteppich sowie ein Bällebad.

Für Extremsituationen gibt es andererseits einen Time-Out-Raum, der in Einzelfällen zum Einsatz komme. Dort sollen Kinder und Jugendliche mit akuter Tendenz zur Selbst- und Fremdgefährdung Ruhe finden. Hinzu kommen die Therapiezimmer, in denen psychotherapeutisch gearbeitet wird, sowie die Ergotherapie mit Bastel- und Kreativangeboten und Bewegungstherapie mit Sport und Klettern in der großen Multifunktionshalle.

Die Kinder und Jugendlichen hier haben unterschiedlichste Charakterzüge, Persönlichkeiten und Störungen – und doch verbindet sie eins: Schon in jungen Jahren sind sie behandlungsbedürftig. Die Gründe reichen laut Daub von genetischen Faktoren über Komplikationen in der persönlichen Entwicklung bis hin zu Konflikten in der Familie oder Schulproblemen.

Manche bleiben wenige Tage auf einer der Stationen, andere über Wochen und Monate. Einzelne verbringen hier ein Jahr oder gar länger. Verlässt ein Kind oder ein Jugendlicher die KJP, bleibt bei allen Beteiligten vor allem eins: die Hoffnung, dass es draußen nun leichter wird. Nicht immer, aber oft, wird es das.


Den ganzen Artikel der Fuldaer Zeitung: https://www.fuldaerzeitung.de/fulda/kinder-jugend-psychiatrie-fulda-so-laeuft-der-alltag-diagnose-therapie-spiel-time-out-93489487.html
Redaktion: Christopher Hess
Stand: 29.12.2024