Der Tod der zwölfjährigen Luise hat Gewalt unter Kindern in den Fokus gerückt. In der Kriminalstatistik der Polizei, die jetzt veröffentlicht wurde, zeigt sich nun: Kinder gelten immer häufiger als Tatverdächtige.
Fulda – Rund 93.100 Kinder unter 14 Jahren sind 2022 in Deutschland für Straftaten angezeigt worden – im Vergleich zum Vorjahr eine Steigerung von 35,5 Prozent. Auch im Bereich des Polizeipräsidiums Osthessen sind die Zahlen gestiegen: Hier waren es 2021 noch 198 Personen, 2022 dann 365. Auch prozentual gemessen an der Anzahl aller Tatverdächtigen gab es einen Anstieg der tatverdächtigen Kinder von 2,3 Prozent (2021) auf 3,8 (2022).
Fall Luise löst Debatte aus: Alter der Strafmündigkeit zu hoch?
Eine Tendenz lasse sich jedoch nicht ablesen: „Bei einer Langzeitbetrachtung zeigt sich der prozentuale Anteil von Kindern von Jahr zu Jahr wellenförmig“, sagt Polizeipressesprecher Dominik Möller. Zum Großteil würden die Delikte, die Kindern vorgeworfen werden, und die zugenommen haben, auf die Bereiche Ladendiebstahl, Körperverletzung und Sachbeschädigung entfallen.
„Dies dürfte auch mit der Aufhebung der pandemischen Beschränkungen und dem Wiederaufleben des öffentlichen und sozialen Lebens, verbunden mit vermehrten Tatgelegenheiten, in Verbindung stehen“, erklärt Möller und betont: „Bei den Straftaten gegen das Leben ist 2022 kein Kind unter den Tatverdächtigen.“
Die Grafik zeigt die jährliche Entwicklung bei dem Anteil der Tatverdächtigen unter 14 Jahren im Polizeipräsidium Osthessen. © Grafik: Daniel Krenzer
Dass Kinder bis zum Äußersten gehen und töten, ist ohnehin höchst selten: Der Fall Luise – eine traurige Ausnahme. Die Zwölfjährige aus Freudenberg bei Siegen ist am 11. März in einem Waldstück an der Grenze von Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen erstochen worden. Zwei Mädchen, 12 und 13 Jahre alt, haben die Tat gestanden. Zum Motiv ist wenig bekannt. Weil die beiden Mädchen selbst noch Kinder sind und mit unter 14 als schuldunfähig gelten, halten sich die Ermittler mit Angaben zu den Hintergründen bedeckt. Was allerdings bekannt ist: Die beiden sind nun in der Obhut des Jugendamtes.
Der Fall hat in Deutschland eine Diskussion entfacht, ob das Alter der Strafmündigkeit ab 14 Jahren nicht heruntergesetzt werden müsste. In einem Streitgespräch in der „Zeit“ spricht sich beispielsweise die Jura-Professorin Elisa Hoven dafür aus und sagt, dass sie es bei schweren Straftaten für vertretbar halte, die Grenze auf zwölf Jahre abzusenken. „Natürlich geht es nicht darum, Zwölfjährige ins Gefängnis zu stecken. Aber dass der Staat im Fall Freudenberg gar keine strafrechtliche Antwort geben kann, finde ich falsch.“
Stichwort
Deliktfähigkeit: Dieser Begriff bezieht sich auf die zivilrechtliche Regelung, ob eine Person schadensersatzpflichtig ist. Hier gibt es Abstufungen. Ein Kind unter sieben Jahren zum Beispiel ist nicht deliktfähig und haftet nicht für verursachte Schäden. Zwischen 7 und 18 Jahren können Personen nur dann für schädigendes Verhalten haftbar gemacht werden, wenn sie fähig zur Einsicht sind. Wenn ein Kind, das einen Schaden verursacht hat, nicht haftbar ist, können die Eltern oder andere Aufsichtspersonen zur Verantwortung gezogen werden.
Schuldfähigkeit: Der Begriff kommt aus dem Strafrecht. So kann grundsätzlich niemand verurteilt werden, der bei der Begehung einer Tat ohne Schuld handelt. Als schuldunfähig gelten Personen unter 14 Jahren. Auch Menschen, die psychisch, körperlich oder seelisch beeinträchtigt sind, können als schuldunfähig gelten. Für Jugendliche zwischen 14 und 18 sowie für Heranwachsende (18 bis 21) sieht das deutsche Recht das Jugendstrafrecht vor.
Rechtsexpertin Renate Künast hält dagegen: „Wir wissen, dass Jugend-Arrest sehr schlechte Folgen haben kann. Manche Insassen werden da noch härter.“ Auch Dr. Patrick Liesching, Leiter der Staatsanwaltschaft Fulda und Vorsitzender des Weißen Rings, hält die Strafmündigkeit ab 14 Jahren für gerechtfertigt: „Seit Jahrzehnten wird immer wieder darüber diskutiert. Ich glaube, aber dass das Strafmündigkeitsalter mit guten Gründen bei 14 Jahren liegt und auch nicht verändert werden sollte.“
Zwar sei das Jugendstrafrecht für Kinder nicht anwendbar, es gebe aber dennoch Maßnahmen die das Jugendamt ergreifen könne. „Das reicht von der Beratung der Eltern über die Inobhutnahme, der Entziehung des Sorgerechts bis hin zur Unterbringung in einem Heim“, betont er.
Ein Argument derjenigen, die eine Herabsetzung der Strafmündigkeit fordern, ist die Tatsache, dass Kinder heutzutage in ihrer körperlichen und zum Teil auch psychologischen Entwicklung früher dran sind als zum Beispiel noch vor 100 Jahren. „Zweifelsohne gibt es eine Zunahme von Mädchen und Jungen, die früher in die Pubertät eintreten“, erklärt Chefarzt Dr. Frank Theisen von der Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie am Herz-Jesu-Krankenhaus in Fulda.
Kriminalstatistik zeigt Anstieg: Werden Kinder krimineller?
Das bringe in vielen Bereich aber „Überforderungssituationen für die Kinder mit sich“. Die Frage nach dem Schuldfähigkeitsalter sei komplex: „Bei der Schuldfähigkeit geht es nicht nur um den Faktor der Einsichtsfähigkeit, sondern ebenso um die vielen Aspekte der Steuerungsfähigkeit bei Begehung der Tat und darum, ob diese Fähigkeit durch verschiedene Faktoren beeinträchtigt waren.“
Jeder Fall müsse detailliert und individualisiert analysiert werden. „Am Ende könnte es weniger um das Schuldfähigkeitsalter gehen, als vielmehr konkret darum, auf welcher Rechtsbasis Konsequenzen wie zum Beispiel eine außerhäusliche Unterbringung in einer pädagogisch-therapeutischen Einrichtung umgesetzt werden.“
Artikel der Fuldaer Zeitung online: https://www.fuldaerzeitung.de/fulda/fall-luise-loest-debatte-aus-alter-strafmuendigkeit-zu-hoch-osthessen-dominik-moeller-92184678.html?cmp=json
Als PDF-Datei: Werden Kinder krimineller? – Wenn Kinder gewalttätig werden
Redaktion: Daniela Petersen
Stand: 31.03.2023