Im Gespräch mit Dr. Schlee: „Es ist nie zu spät, etwas Neues zu lernen“

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Interview mit Dr. med. Steffen Schlee, Herz-Jesu-Krankenhaus Fulda

Wer rastet, der rostet“ ist eine Alltagsweisheit, die auch wissenschaftlich bestätigt ist. Der Mediziner Dr. Steffen Schlee, Experte für Geriatrie am Fuldaer Herz-Jesu-Krankenhaus im Interview über die positiven Auswirkungen, die das Lernen auch im höheren Alter hat.

Was haben Sie selbst in letzter Zeit gelernt – beruflich oder privat?

Zuletzt habe ich mich beruflich u.a. einem innovativem Diagnostikverfahren gewidmet, der Schluckendoskopie, um frühzeitig Schluckstörungen bei geriatrischen Patienten diagnostizieren und behandeln zu können.

Privat arbeite ich daran, einen Kindheitstraum verwirklichen zu können und lerne Klavierspielen. Leider wollen die Finger aber noch nicht den Noten folgen. Aber ich freue mich, wenn mir ganz einfache Lieder gelingen – schließlich ist der Weg das Ziel.

Gab es dabei etwas, das Sie besonders überrascht oder herausgefordert hat?

Erstaunlich ist aus meiner Sicht, dass man auch im fortgeschrittenen Lebensalter noch Neues lernen kann. Es ist also nie zu spät, sich neuen Herausforderungen zu stellen. Dabei fällt es manchmal schwer – verglichen mit Kindern – sich besondere Fähigkeiten wie zum Beispiel eine Fremdsprache anzueignen. Aber es ist möglich – und macht auch Spaß, sein Gehirn etwas herauszufordern.

Was genau geschieht im Gehirn eines Menschen, wenn er etwas Neues lernt?

Der Lernvorgang ist ein sehr komplexer Vorgang, ich versuche ihn verständlich darzustellen.

Zunächst muss der Lernende motiviert werden und seine Aufmerksamkeit auf den zu lernenden Inhalt lenken. Das geschieht, indem in verschiedenen Gehirnbereichen Botenstoffe ausgeschüttet werden. Sie bereiten das Gehirn vor, neue Verknüpfungen bilden zu können. In einem weiteren Schritt werden Netzwerke aus Nervenzellen aktiviert, die gemeinsam ein Muster bilden. Beim Üben eines Klavierstücks werden immer wieder dieselben Bewegungen durchgeführt, dieselben Töne erzeugt und die damit einhergehenden Gefühle assoziiert. Je häufiger man übt, desto stärker wird die Verbindung der Neuronen-Netzwerke.

Dann wird – vereinfacht dargestellt – der Zusammenhalt der Nervenzellen, also die Verbindungsstärke verändert. Schließlich werden die gemerkten Inhalte gespeichert und während des Tiefschlafs immer wieder reaktiviert. So werden dauerhafte Gedächtnisspuren ausgebildet.

Bleiben wir beim Klavierlernen: Je fleißiger geübt wird, desto mehr wachsen und vernetzen sich die Nervenzellen und desto mehr spezialisierte Nervenzellen in bestimmten Hirnregionen entstehen. Häufig genutzte Nervenbahnen werden mit einer fetthaltigen Schicht umgeben, was die Signalübertragung wesentlich schneller macht. Aus einer Landstraße wird gewissermaßen eine Datenautobahn.

Schließlich gibt es eine individuelle Bewertung des Gelernten hinsichtlich Bedeutsamkeit oder Emotionalität. So ist erklärbar, warum mich ein Chopin-Klavierstück emotional berührt ein Volkslied aber „kalt“ lässt.

Der Begriff lebenslanges Lernen ist im Berufsleben allgegenwärtig. Warum sollte das Lernen nach dem aktiven Berufsleben nicht aufhören?

Es heißt nicht umsonst „wer rastet, der rostet“. Wer nach dem Motto lebt „das haben wir immer schon so gemacht“, der ist nicht bereit Neues zu lernen und über den Tellerrand zu schauen. So hängt der Erhalt der geistigen Leistungsfähigkeit entscheidend von der Lernbereitschaft ab. Kognitive Funktionen wie Aufmerksamkeit, Gedächtnis und Problemlösungsfähigkeit bleiben durch aktives Lernen länger erhalten, ergaben neuere Studien. Außerdem trägt das Lernen zum psychischen Wohlbefinden bei und fördert die soziale Teilhabe, etwa dann, wenn man in Kontakt mit anderen Menschen kommt.

Welche Rahmenbedingungen sind für erfolgreiches Lernen im Alter besonders wichtig?

Neben der Motivation etwas Neues lernen zu wollen, fördern kognitive Voraussetzungen das Lernen. So sollte man ausreichend schlafen und Lerneinheiten nicht zu lange gestalten (ca. 30-45 Minuten). Eine ruhige und ungestörte Atmosphäre ist optimal. Sehr bewährt hat sich eine Kombination aus Sehen, Hören und Tun, also die Einbindung aller Sinne.

Das Thema Demenz betrifft viele Menschen direkt oder indirekt. Bedeutet die Diagnose Demenz, dass Lernen oder das Wiedererlernen von Fähigkeiten nicht mehr möglich ist?

Nein, keineswegs: das Lernen oder Wiedererlernen von Fähigkeiten ist auch mit einer Demenz möglich, wenn auch vielleicht eingeschränkt. Das bewusste Merken von Fakten oder Terminen, das man auch das „explizite Lernen“ nennt, ist eingeschränkt, jedoch bleibt das unbewusste Einprägen von Bewegungen, Gewohnheiten oder Routinen lange erhalten. So kann man durchaus ein Klavierstück spielen, auch wenn man sich nicht daran erinnern kann, es geübt zu haben. Man nennt dies das „implizite Lernen“.

Welche Arten von Lernprozessen sind bei Menschen mit Demenz weiterhin zugänglich, und welche positiven Effekte kann gezieltes Training haben?

Neben dem bereits genannten „impliziten Lernen“, dem Lernen das unbewusst abläuft, kann das „emotionale Lernen“, einen Schlüssel darstellen, wie Gedächtnisabläufe bei demenzerkrankten Menschen zugänglich sind. Dahinter steht die Beobachtung, dass Gefühle länger abrufbar sind als das Faktenwissen und positive Gefühle die Gedächtniswirkung fördern. Darunter fällt die Freude, die wir empfinden, wenn wir ein Musikstück hören oder das Wiedererkennen von vertrauten Stimmen oder Gerüchen. Wiederholungen spielen in diesem Zusammenhang auch eine wichtige Rolle. Diese erleichtern die spätere Wiedererkennung. Dies können Wörter oder Melodien sein. Ferner kann ein Zugang über verschiedene Sinnesreize gefördert werden, der Geruch von Kaffee zum Beispiel oder das Erkennen eines Buches über die Form.

Welche Bedeutung hat es, auch im höheren Alter neue Kompetenzen zu erwerben – für die persönliche Entwicklung, aber auch für die geistige Gesundheit?

Dass auch im Alter noch gelernt werden kann, sogar bei Patienten, die an einer Demenz leiden, ist ermutigend. Denn es fördert die Selbstwirksamkeit und das Selbstvertrauen, ist sinnstiftend und steigert die Lebensfreude. Erfolgserlebnisse stärken zudem das Selbstbild. Lernen fördert Begegnungen, den Austausch, die Zugehörigkeit und die Bewältigungskompetenzen. Kurzum: Lernen hat viele positive Aspekte, sodass es keinen Grund gibt, sich im Alter nicht mit Neuem auseinanderzusetzen.

 


Dr. med. Steffen Schlee ist Chefarzt der Abteilung für Geriatrische Innere Medizin, der Geriatrischen Tagesklinik sowie des Alterstraumalogischen Zentrums (ATZ) am Herz-Jesu-Krankenhaus in Fulda.

Nach dem Studium der Humanmedizin an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, arbeitete er am Klinikum Nürnberg an der Medizinischen Klinik II Schwerpunkt Geriatrie, eines der größten Geriatrie-Zentren in Deutschland. Als Funktionsoberarzt betreute Dr. Schlee die Akutgeriatrie mit Fokus auf die geriatrische früh-rehabilitative Komplexbehandlung und die akutgeriatrische Tagesklinik. Über viele Jahre war er Oberarzt der Klinik für Allgemeine Innere Medizin und Geriatrie am Krankenhaus Barmherzige Brüder in Regensburg, dann Chefarzt der Klinik für Geriatrie an das Kreiskrankenhaus Frankenberg/Eder. Vor dem Wechsel ans Herz-Jesu-Krankenhaus war er Chefarzt der geriatrischen Klinik und Leiter des Zentrums für Gerontotraumatologie am Stadtkrankenhaus Korbach.

 


Quelle Mediana: https://www.mediana.de/es-ist-nie-zu-spaet-etwas-neues-zu-lernen
Stand: 11.12.2025